Die Kriegserklärung – #Ferguson ist überall

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No matter how cynical you get, it is impossible to keep up.

(Lily Tomlin, US-Schauspielerin)

Am Sonntag 1. März warfen fünf Beamte der LAPD (Los Angeles Police Department) einen schwarzen Obdachlosen brutal zu Boden. Dann erschossen sie ihn kaltblütig (das Video).

Ferguson ist aktuell. Ferguson ist Alltag.

Aber warum? Woher?


Drogenkrieg in einer farbenblinden Gesellschaft

Am 17. Juni 1971 erklärte US-Präsident Richard Nixon den Krieg. Zwar steckte er in Vietnam schon längst in einem schweren Konflikt fest. Trotzdem ließ er einen zweiten Feldzug vom Stapel, einen Krieg gegen Drogen. In Vietnam hatte er neben dem Vietcong einen neuen Gegner ausfindig gemacht und zum „Hauptfeind der Gesellschaft“ befördert. Denn bis zu 15 Prozent der in Vietnam kämpfenden US-Soldaten konsumierten Heroin. Dagegen helfe nur „ein wirksamer Krieg gegen die Heroinsucht“ (Englischer Originaltext).

Warum ist das heute noch wichtig? Was hat es mit Ferguson zu tun? Mit Polizeigewalt, Militarisierung und mit der Unterdrückung der Schwarzen?

Sehr viel. In diesem Krieg fanden die USA einen Weg zurück zur Rassenunterdrückung. Hier fand Ferguson seinen Ursprung.

Der Drogenkrieg erklärt, warum in den USA Rassismus wieder “in der Grundstruktur… der Gesellschaft zum Ausdruck kommen konnte,” so die Juristin Michelle Alexander. „Der Drogenkrieg war das Mittel, mit dem unzählige schwarze Männer in den Käfig gesperrt wurden.“

Wir können hier die Geschichte dieses bis heute andauernden Feldzuges nicht im Detail wiedergeben. Aber ein kurzer Rückblick ist notwendig, um zu verstehen, wie der im letzten Beitrag beschriebene Polizeiapparat entstehen konnte. Und wie das Rechtssystem so pervertiert wurde, dass es einen „farbenblinden Rassismus“ schuf in Amerika, eine Jagd auf Schwarze, ohne je explizit rassistisches Vokabular zu verwenden.

Dieser Krieg hat auch die Welt verändert. Es ist ein Weltkrieg geworden, den wir alle mehr oder weniger mitgeführt haben. Er machte es uns leicht, Feindbilder zu festigen und die Welt in gut und böse aufzuteilen. Hier die braven Bürger, geschützt von wackeren Polizeibeamten, dort die Kriminellen, die Junkies, die Kinderprostituierten und die Drogenbarone.

Vielleicht hat uns auch unser Voyeurismus hineingezogen? Unheil, dem wir entgehen, beschwingt uns. Wir sind froh, nicht im Malheur des andern verstrickt zu sein. Wer war nicht betroffen vom Schicksal von Christiane F, damals vor 30 Jahren? Und wer war 2014 nicht erschüttert durch die Massenmorde Mexikanischer Kartellkönige. Haben wir es uns dabei nicht zu leicht gemacht, wenn wir nach Erklärungen suchten?

Ich muss selbstkritisch fragen: Habe ich nicht irgendwo und irgendwie mitgekämpft? Es war abenteuerlich, mit der „Leopard“ Brigade des Bolivianischen Heeres im Mondlicht über den Altiplano zu fahren, um ein Coca-Labor auszuheben (ein schweigsamer Beamter der US-Drogenbehörde DEA fuhr auch mit). Es war spannend, damals, als Kolumbien im Chaos zu versinken drohte, auf der Spur von Pablo Escobar nach Medellín zu fahren oder in Cali nach dem Ochoa-Kartell zu forschen (Spiegel Spezial 1.1.1989). Habe ich auch zur Illusion beigetragen, es handle sich um einen Krieg, den man mit Militär und Polizei gewinnen könne?

Ich habe damals in den 80er Jahren nicht erkannt, was für politische Konsequenzen der Drogenkrieg haben würde. Auch Gespräche im State Department oder der DEA in Washington blieben auf der Ebene einer Generalstabsbesprechung. Wie stark ist der Feind? Wo ist er? Wie wird er gejagt? Wo gut lag und wo böse war axiomatisch festgelegt. Ob man die Sache „progressiv“ oder „konservativ “ betrachtete zeigte sich vor allem darin, ob man die Konsumenten der Drogen als Opfer sah oder an die Seite der Täter rückte.

Wo liegen nun in Amerika die politischen Ursprünge dieses endlosen Konflikts? Wie konnte sich eine ganze Nation in einen solchen Krieg einbinden lassen?

An der Oberfläche finden wir Argumente, die uns durch ihre Vernunft allzu leicht verführen. Es ist doch rational, wenn eine Regierung einen Missstand entdeckt und dagegen Maßnahmen ergreift. So gesehen war Nixons Politik noch relativ vernünftig. Denn mehr als die Hälfte der Gelder waren vorgesehen für Prävention und Rehabilitierung. Und Drogensucht unter den Soldaten war ein reales Problem. Dann aber wurde dieses Problem nahtlos auf die Zivilgesellschaft übertragen. Und seither setzten alle US-Präsidenten (außer Carter) voll auf den Krieg, während sie Prophylaxe und Heilung von der Drogenagenda verdrängten.

Dabei gab es genügend Grund, eher eine sanfte Politik zu fördern: Rund 95 Prozent der in Vietnam heroinsüchtigen Soldaten ließen ab vom Rauschgift, als sie wieder zu hause waren. Offenbar war Heroin also doch nicht so gefährlich, wie man glaubte. Eine spannende Angelegenheit, die leider unseren Rahmen sprengt (mehr dazu). Das Beispiel soll hier nur aufzeigen, wie fraglich Gewissheiten in der Drogendebatte oft sind.

Neben den expliziten Zielen einer Politik gibt es meist verborgene Intentionen. Kriminalistik-Professorin Diana Gordon nennt das die „Schattenagenda“ und glaubt, darin die tatsächlichen Absichten des politischen Establishments zu erkennen. Heute erscheint mir der Begriff zu  „konspirativ.“ Aber als sie das Wort in ihrem Buch The Return of the Dangerous Classes (New York, 1994) schrieb, brauchte sie solche Vorbehalte nicht zu fürchten. Niemand behauptet, dass sich Nixon oder Reagan mit den Chefs der Polizei zusammengesetzt hätten, um die Frage zu erörtern, wie sie jetzt die Schwarzen „fertig machen“ könnten.

Aber so funktioniert Politik. Verschiedene Kräfte wirken ein, und zusammen erwecken sie den Anschein, es sei alles geplant. Einige Elemente einer politischen Entwicklung sind überlegt, aus der Vernunft entstanden. Andere kommen aus dem Unterbewusstsein, oder sind das Resultat von parallelen politischen Bestrebungen, von Kräften, an die niemand dachte.

Und dann gibt es auch die zynische Nutzung von irrationalen Komponenten im „Volksempfinden“ durch die Politiker. Dies scheint in der Entwicklung und Eskalation des Drogenkrieges entscheidend gewesen zu sein.

Denn obwohl niemand bis heute schlüssig erklären konnte, wie einer Sucht mit Krieg zu begegnen wäre, besteht in den USA seit Jahrzehnten eine Enge Verbindung in der öffentlichen Meinung zwischen Drogen und Kriminalität. Und das ist den meisten Menschen Grund genug, Abhängige zu verteufeln.

Für den Übergang von einer Abstraktion – Krieg gegen „die Drogen“ ist so abstrakt als Konzept wie Krieg gegen „den Terror“ – zu bestimmten Menschengruppen gab es eine hundertjährige Tradition.

Denn die Bekämpfung von Drogen fing lange vor Nixon an: seit über 100 Jahren sind Suchtmittel aller Art illegal, deren Konsum strafbar. Weltgeschichtlich gesehen ist das nichts. Aber es hat unsere Epoche weitgehend markiert.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts „waren Drogen weltweit frei erhältlich,“ schreibt der Journalist Johann Hari in seinem vor kurzem erschienenen Buch Chasing the Scream (London, 2015). „Man konnte in jeder Apotheke in Amerika Mittel kaufen mit denselben Wirkstoffen wie Heroin und Kokain… Und in England verkauften die schickesten Läden Heroin für die Damen der besseren Gesellschaft.“

In ihrem millionenfach in den USA verteilen Katalog pries Sears Roebuck in den 1890er Jahren sogar eine Injektionsspritze samt Schuss Kokain für US$ 1.50 an.

Plötzlich aber war es mit der Freizügigkeit vorbei. Denn um die Jahrhundertwende wurden Drogen zunehmend mit bestimmten Bevölkerungsgruppen in Verbindung gebracht, die der in Amerika herrschenden Schicht weißer Bürger unliebsam geworden waren. Nicht die Drogen wurden bekämpft, sondern die Menschen, die sie angeblich benutzen.

Ob eine Droge legal oder illegal ist „hat nichts mit einer wissenschaftlichen Einschätzung des Risikos zu tun, das eine Droge mit sich bringt,“ erklärt die Drug Policy Alliance, die in den USA für die Reform der Drogenpolitik einsteht. „Es geht darum, wer mit diesen Drogen in Verbindung gebracht wird.“

So dienten die Opium Gesetze in den 1870er Jahren in erster Linie dazu, den Einfluss der Chinesen in Kalifornien einzuschränken.

„Die Chinesen wurden nicht mehr gebraucht auf dem Bau der Eisenbahnen im Westen,“ erklärt Diana Gordon, „jetzt wurden sie beschuldigt, in der Wirtschaftskrise den Weißen Arbeitsplätze wegzunehmen.“

Kokain, im Bürgerkrieg noch Wundermittel für die Behandlung verwundeter Soldaten, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in den Südstaaten illegal. Drogensüchtige, kriminelle Schwarze waren angeblich eine Gefahr für die Gesellschaft. Dabei bewiesen Untersuchungen damals schon, dass der Kokain-Konsum unter Afroamerikanern gering war. Auch hier war das Ziel, „gefährliche Klassen“ (so Gordon) zu identifizieren und zu kriminalisieren. Einmal mehr ging es um Arbeitsplätze in einer schrumpfenden Wirtschaft.

Dasselbe Muster wiederholte sich in den 20er Jahren, als im mittleren Westen und im Südwesten die systematische Verfolgung von Marihuana anfing. Wieder schufen rassistische Argumente das notwendige Feindbild: Mexikaner waren „degeneriert“ weil sie Marihuana rauchten. Streitobjekte waren in Wirklichkeit die Arbeitsplätze auf den Farmen.

Harry J. Anslinger, langjähriger Leiter der neu errichteten Drogenbehörde Federal Bureau of Narcotics war es gelungen, 1914 die Illegalisierung von Heroin und Kokain durchzusetzen (obwohl er angeblich selber eine tägliche Dosis Morphium nahm). Aber seine Behörde blieb zunächst unbedeutend, weil der Drogenmarkt zu klein war. Mehr Bedeutung, Budget und Beamte erreichte Anslinger nun durch Panikmache. Dabei setzte er gezielt rassistische Argumente ein.

„Er malte dem Parlament Albtraum-Visionen der Drogen-Konsumierenden Schwarzen und Mexikaner vor,“ berichtet Hari. „Er habe gehört, dass (weiße) Studentinnen an der University of Minnesota mit Schwarzen feiern würden… das Resultat: Schwangerschaft.“

Auch Marihuana verteufelte Anslinger vor den erschrockenen Abgeordneten. Es würde „Menschen zu wilden Tieren machen.“ Sogar der Jazz Musik stellte Anslinger als Symptom der Degeneration systematisch nach, und die Sängerin Billie Holliday verfolgte er verbissen.

Diese Verteufelung wurde zum geläufigsten Element der Drogenbekämpfung. Wir können heute lachen über die Propaganda, die gemacht wurde und noch wird. Etwa im Film über das „Teufelskraut Marihuana“ von 1936 (Marihuana: The Devil’s Weed). Diese Haltung findet sich bis heute, etwa wenn Prediger Pat Robertson verkündet, wer Marihuana rauche sei „einem Gemüse versklavt“.

Das ist lächerlich. Aber die Folgen sind ernst. Denn die systematische Verteufelung schuf ein Weltbild, das den Krieg gegen Drogen zu einem der wichtigsten Elemente der amerikanischen Politik machte. Verachtung und Abgrenzung sind für den Wähler einfacher zu verstehen als komplexe Tatbestände.

„Menschen haben eine Neigung, die relative Bedeutung von Sachverhalten dadurch zu messen, wie leicht sie aus der Erinnerung zu holen sind,“ schreibt Nobelpreisträger Daniel Kahnemann. „Und das hängt weitgehend von der Berichterstattung in den Medien ab.“ (Thinking, Fast and Slow, 2011).

Der Mensch sucht nach möglichst simplen Erklärungen für die gesellschaftlichen Probleme, die er nicht versteht. Die rebellische, triebhafte Jugend der 70er Jahre etwa machte Nixon und einer ganzen Generation perplexer Eltern schwer zu schaffen.

Die britische Journalistin Polly Toynbee fasst das so zusammen: „Wir verdichten eine verworrene Wirklichkeit zu einem Narrativ von gut und böse.“ (zitiert in John Yorke, Into the Woods, 2013).

So wird das Wort vor die Realität gestellt. Die Verteufelung der Drogen und der Menschen, die sie konsumierten, erfolgte mit einem zunehmend kriegerischen Vokabular. Und dieser irrationale Wortschatz wurde zur Politik. Vor allem Ronald Reagan verwandelte die Worte Nixons in den 80er Jahren in handfeste Polizeimaßnahmen.

Für Diana Gordon, Professorin der Politik und Kriminalistik an der New York City College, war Sprache entscheidend. Sie nennt das Drugspeak – die Sprache der Drogen. Diese Sprache rechtfertigt, ja verursacht geradezu, was in den USA seit über 30 Jahren als Drogenpolitik gilt.

Sie bezieht sich dabei auch auf den Politologen Murray Edelman (1919 – 2001), der in seinem Werk Political Language: Words that Succeed and Policies That Fail (New York, 1977) schrieb:

„Die Sprache dient dazu, bestehende Politik zu bestärken und zu reproduzieren. Mehr als eine Aufzeichnung der Realität wird sie zur Wirklichkeit, mit der jene, die Politik formulieren und ausführen … einen politischen Wandel verhindern.“

War das eine Erfindung der Politik? Nicht nur. Ohne die Medien hätte sich Drugspeak nie durchsetzen können. Warum kam die Sprache des Krieges aber so gut an?

Krieg ist geil.

Die Behauptung ist grotesk, wenn man sie mit der Vernunft alleine betrachtet. Doch mit der Räson schauen wir leider nur selten auf unsere Umwelt. Eine perverse Faszination scheint Berichterstatter zu packen, wenn es um Konflikte und um Waffen geht. Erinnern wir uns doch an den Aufmarsch zum Golfkrieg, an die Begeisterung für mörderisches Spielzeug und die erwartungsvolle Spannung „eingebetteter“ Journalisten, die mit den Truppen nach Bagdad rollen durften. Wie es unten aussah, wenn „intelligente“ Bomben hinab regneten, kam nur selten zur Sprache.

Zu diesem Thema gibt es reichlich Literatur. Sie geht über den Gegenstand dieses Beitrages hinaus. Der Hinweis soll hier aber daran erinnern, wir leicht Journalisten für Krieg zu begeistern sind. Es erklärt auch, warum die Medien in den USA über die Äußerungen ihrer Politiker hinaus den „Krieg gegen die Drogen“ aufnahmen. Voller Enthusiasmus berichteten sie von den Missständen in den Armenvierteln ihrer Städte. Phantasievoll schürten sie die Angst, um Einschaltquoten und Auflagen in die Höhe zu treiben. Und parallel dazu kletterte „Kriminalität“ auf der Sorgenskala amerikanischer Bürger steil in die Höhe.

„Politiker, Bürokraten und TV-Moderatoren entdecken zwar manchmal Besorgnis über ein Problem in der Öffentlichkeit,“ schreibt Diana Gordon, „aber manchmal erschaffen sie diese Besorgnis auch.“

Dabei kreierten Politiker und Medien fast ikonenhafte Figuren, die in Amerika zu Grundelementen des politischen Diskurses wurden: welfare moms, crack babies, predators oder gangbangers. So wurden Opfer zu Tätern gemacht. Die Bewohner der armen, schwarzen Ghettos wurden als Sozialschmarotzer, Raubtiere oder Gangmitglieder entmenschlicht. Wer gegen diese üblen Elemente keine klaren Worte fand wurde als Politiker untragbar und schied als Weichei aus. 1988 verlor der demokratische Kandidat Michael Dukakis die Präsidentschaftswahl gegen George H.W. Bush, weil er ein „Liberaler“ war, während Bush gezielt irrationale Ängste vor Kriminellen schürte.

Medien und Politik schaukelten sich mit zunehmender Leidenschaft hoch. Dabei erfolgte die mediale Eskalation, zumindest ab 1991, in einer Zeit in der die tatsächliche Häufigkeit von Verbrechen stetig abnahm (die Mordrate etwa fiel zwischen 1991 und 2001 um fast die Hälfte). Doch Tatsachen wurden immer unbedeutender, Argumente kamen nur noch aus dem Bauch.

Die amerikanische Vorliebe für simple Erklärungen und klare Einteilung in „gut“ und „böse“ schuf, im Zusammenspiel mit einem alt-testamentarischen Hang zur Rache anstelle von Recht einen Konflikt, der unzählige Tote und Millionen Strafgefangene zur Folge hatte.

Wissenschaftliche Arbeiten über die Anfänge des Drogenkrieges in den 80er und 90er Jahren – etwa The New Jim Crow von Michelle Alexander (New York, 2012) oder das schon zitierte The Return of the Dangerous Classes von Diana R. Gordon – kommen zu erstaunlichen Einsichten. Die logische Folgerung, dass ein bestehender Missstand zu politischen Maßnahmen führte, die dann mehr oder weniger erfolgreiche Konsequenzen hatten, ist schlichtweg falsch. Es ging von Anfang an um etwas ganz anderes.

„Amerikanische Drogenpolitik … befasst sich nur marginal mit der Reduzierung von Drogenkonsum,“ meint Diana Gordon, „Drogenpolitik ist ein Mittel, um Werte wie Sicherheit oder Ordnung … zu fördern und um materielle und politische Erfolge … zu sichern.“

Harte Drogenpolitik gewann Wahlen. Sie schuf wachsende Budgets und ausufernde Bürokratien. Sie wurde zu einem Instrument der Macht, das kaum noch zu kontrollieren ist.

Erstaunlich sind auch die Einsichten von Michelle Alexander, Professorin der Rechte an der Ohio State University:

„Die Drogenkrise entstand in den schwarzen Nachbarschaften nachdem – und nicht bevor – der Drogenkrieg erklärt wurde. Der Krieg … begann zu einer Zeit, als der Konsum von Drogen rückläufig war.“

Die Logik klingt pervers: Waren die politischen Bedingungen für den Drogenkrieg einmal geschaffen, dann stellten sich gerade jene Umstände ein, die als Ursache dieses Drogenkrieges aufgeführt wurden. Die Politik war pervers.

Der Krieg wurde in die Ghettos amerikanischer Städte hinein getragen und eskalierte dann zu einer Orgie von Gewalt. Je mehr Politiker sich mit „law-and-order“ Parolen profilierten, umso mehr festigte sich das grausame System. Denn nicht nur Politiker posaunten im Chor das Gesetz der Rache – auch die in den USA gewählten Staatsanwälte und Sheriffs bliesen ins dasselbe Rohr.

Dabei waren die politischen Faktoren gar nicht so komplex: Wachsende Arbeitslosigkeit verstärkte den Rassismus der weißen Unterschicht. Die glaubte, die im Boom des Vietnam Krieges rekrutierten Schwarzen hätten ihr die Jobs weggeschnappt. Dazu kam eine politische Umschichtung in den Südstaaten: vergrault durch die Bürgerrechtspolitik der Demokraten liefen die Wähler verstärkt zu den Republikanern über.

Ronald Reagan gelang es in den 80er Jahren, die Parolen vollends in einen tatsächlichen Krieg zu verwandeln. Dabei setzte er geschickt zwei Waffen ein: Worte und Geld. Angriffe gegen schmarotzende Ghetto Bewohner waren genau das, was seine arme weiße Klientel hören wollte. Aber er ging sehr geschickt vor.

„Seine Gegner beschuldigten ihn, rassistische Botschaften zu verbreiten,“ schreibt Michelle Alexander. „Reagan leugnete dies, und Liberale fanden sich nun in der unbequemen Lage, dass sie seinen Rassismus mangels explizit rassistischen Vokabulars nicht beweisen konnten.“

Geld aus der Bundeskasse war das Mittel, mit dem Reagan die Polizei- und Justiz von Bundesstaaten und lokalen Behörden auf seine Linie brachte.

„Enorme Zuwendungen wurden gemacht an die Polizeibehörden, die Drogenbekämpfung zu ihrer höchsten Priorität machten,“ schreibt Michelle Alexander. „Das neue System war eine massive Bestechung dieser Behörden durch die Bundesregierung.“

Nicht einmal die Verfassung war Reagan heilig: Trotz des Posse Comitatus Act aus der Zeit des Bürgerkrieges, der jeglichen militärischen Einsatz im Inland verbietet, jagte er 1981 den Military Cooperation with Law Enforcement Act durch den Kongress. Damit erhielten Polizeibeamte Zugriff auf militärische Ausrüstung, Technik und Stützpunkte (siehe den vorherigen Beitrag zur Militarisierung).

 

Zum Abschluss ein paar Zahlen:

Rund 200 Millionen Menschen im Jahr konsumieren weltweit illegale Drogen. 250’000 sterben daran.

Weltweit sterben jährlich 2,25 Millionen Menschen durch Alkohol und 5,1 Millionen durch Tabak-Konsum.

Die USA geben jährlich 51 Milliarden Dollar aus für den Krieg gegen Drogen. Dabei verhaften sie in einem Jahr 1,5 Millionen Menschen (Zahl für 2013).

Auf die „Spur des Geldes“ kommen wir noch zurück, wenn wir uns mit der Justiz befassen. Bis heute ist Geld der Anreiz für jede Polizeibehörde, mit allen Mitteln Krieg gegen Drogen zu führen.

Polizei, Justiz und Vollzug sind in den USA kein Dienst an der Gesellschaft mehr – sie wurden zum Geschäft, zu einem gigantischen Mähdrescher, der vor allem die Schwarze und Latino Jugend Amerikas aufsaugt und vernichtet.

Das neue Sklaventum in den USA – #Ferguson ist überall

Erschossene Ghetto Kids

Erschossene Ghetto Kids

Die in der Uno-Charta nicht verankerte Doktrin der Humanitären Intervention erlaubt es „uns“ (dem Westen) nach belieben einzugreifen, wo es „uns“ (der Nato) gerade mal passt. Eine „humanitäre Notlage“ genügt als Begründung. Aber warum schauen wir dabei immer nur auf die andern? Vorzugsweise auf die Schwachen? Sollten die Maßstäbe unseres Handelns nicht zuallererst für uns selber und unseren Bündnispartnern gelten? In den USA ist in den letzten drei Jahrzehnten ein humanitärer Notstand herangewachsen, der gänzlich ignoriert wird. Schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte werden als „Einzelfälle“ oder als „Entgleisungen“ abgetan. Vielleicht auch mal als „soziale Explosion“ wie derzeit in Ferguson, Missouri. Dabei hat das Unrecht System. Viele Schwarze in Amerika sehen ihre Unterdrückung als „neues Sklaventum.“ Sollte die UNO einen solch gravierenden Vorwurf nicht zumindest untersuchen? Die Unterdrückung ist leicht zu erkennen, und auch Geschäfte mit Menschen und deren Unfreiheit finden wir überall.

Beweise? Jede Menge.

Kapitel 1: Die Jagd

Ballern: So geht es zu bei unseren Freunden.

Mathew Magish steht mit seinem zweijährigen Sohn vor der Burger-Ausgabe in der Schlange. Sohnemann kann nicht warten, steckt seine süße kleine Hand in Papas Hosentasche auf der Suche nach einem Schokoriegel. Magish aber ist Polizeiwachtmeister. Auch außer Dienst trägt er eine Pistole, man weiß ja nie. Ein Schuss geht los, Splitter fliegen und verletzen den kleinen Gendarmensohn am Fuß. Sein Opa und zwei Frauen, die nur einen Burger kaufen wollten, werden ebenfalls getroffen.

Auch die dürre 9-jährige mit dem langen Zopf und den rosa Shorts ist total süß. Angespannt zielt sie mit der kurzen MP bei Last Stop in Arizona auf die Zielscheibe, drückt ab. Für ihren Ausbilder Charles Vacca ist es tatsächlich die letzte Haltestelle – ein Schuss aus der Uzi trifft ihn in den Kopf. “Er stand auf der falschen Seite” klagt sein Chef, der auf seinem Schießstand “Bullets and Burgers” anbietet, Kugeln und Burger als Wochenendspaß für die ganze Familie.

Die Waffenlobby NRA (National Rifle Association) sieht das gelassen und tweetet für ihre vernetzten Anhänger unverdrossen weiter: “7 Arten, mit Kindern Spaß zu haben auf dem Schießstand.” Farbige Zielscheiben mit Tieren und Mutanten sollen gut ankommen bei den kleinen Ballermännern und – Mädchen.

So sind sie, unsere Freunde, unsere Alliierten und Beschützer, ja unsere engsten zivilisatorischen Brüder. Die finden das alles ganz normal.

Nun sei doch nicht so, sage ich mir. Das ist der Preis der Freiheit. Wenn die sich in Kopf oder Fuß schießen wollen, ist das ihr Problem. Die haben nun mal immer und überall Feuerwaffen. Wir lassen doch auch zu, dass Gehirntote in legalen Autos mit 300 über die Autobahn rasen. Da wird auch mal der eine oder andere platt gemacht, Freiheit hat eben ihren Preis.

Trotzdem gucke ich mich noch ein wenig um bei unseren Freunden. Ist das Problem wirklich nur der Knarrenwahn? Immerhin sind wir eng mit ihnen verbunden in der Wertegemeinschaft. Was das ist, weiß ich auch nicht so genau, ich habe es aber von Leuten wie Merkel und Gauck gelernt. Später frage ich noch einmal nach. Aber erst einmal ab nach Georgia.

In der schmucken Stadt Savannah sitzt der 29-jährige Charles Smith auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens, die Hände auf dem Rücken in Handschellen. Eine alltägliche Szene, schließlich ist Smith schwarz. Was folgt ist aber nicht mehr normal. Denn Smith gelingt es, die Autoscheibe mit den Füßen auszutreten, die Arme nach vorne zu bringen und eine irgendwo auf seinem Körper versteckte Pistole hervorzukramen (obwohl er kurz zuvor verhaftet, durchsucht und in Handschellen gelegt worden war). Gerade rechtzeitig entdeckt ihn David Jannot, ein Polizeibeamter mit zehn Dienstjahren auf dem Rücken. Jannot erschießt Smith, Ende der Geschichte.

Einzelfall” ruft der Amerika-Fan in mir. Ein extremes Beispiel! So ist es doch nicht immer.

Aber immer öfter. Und ein bisschen mehr Mühe beim beschönigen der Polizeiberichte könnten die sich schon geben: Etwa im Fall des 22-jährigen Victor White (auch er schwarz, trotz seines Namens) aus Iberia in Louisiana. Er wurde verhaftet wegen eines “geringfügigen Drogenvergehens,” zwei mal durchsucht und dann wie immer mit den Händen auf dem Rücken in Handschellen gelegt und auf den Rücksitz des Patrouillenwagens gesetzt. Hier schaffte es der Linkshänder eine Pistole mit der rechten Hand hervorzuholen und sich zu erschießen. Der Autopsiebericht jedenfalls bezeichnete den Tod als Selbstmord, der Staatsanwalt sieht keinen Bedarf für eine Untersuchung. Dabei weiß doch jeder Krimileser oder Tatort-Glotzer, dass als erstes die Hände des vermeintlichen Schützen nach Schmauchspuren untersucht werden. Nicht nötig, befand der Forensiker. Der Polizeibeamte erklärte, White habe sich in den Rücken geschossen, wo seine Hände ja auch waren. Der Autopsiebericht stellt dagegen fest, der Schuss sei von vorne in den Oberkörper abgegeben worden. Widerspruch? Offenbar nicht der Rede wert. Verfahren eingestellt, ist ja nur ein Schwarzer.

Über den Tod des 37-jährigen Bodybuilders Daniel Saenz gibt es dagegen keine widersprüchlichen Berichte, das ganze ist auf dem Band der Videoüberwachung zu sehen. Auch er war in Handschellen, als ihn die Beamten in El Paso, Texas, durch das Gefängnis schleppten, auf den Boden warfen und erschossen. Nach dem Abfeuern seiner Pistole behandelte der Polizist den sterbenden noch mit seinem Taser. Erst Minuten später holte er den Sanitäter. Saenz war nicht schwarz, aber braun, ein Latino, was inzwischen fast so schlimm ist wie schwarz.

Wie viele Beispiele muss ich noch finden, um zumindest den Verdacht zu rechtfertigen, dass es sich hier um ein systemisches Problem handelt? Nach wie vielen Einzelfällen sollte ich von Methode statt Missstand reden?

Eine genaue Statistik über gefesselte Erschossene kann ich nicht finden. Aber über Opfer, die noch nicht in Handschellen waren, gibt es reichliche Daten. Das Department of Justice (Justizministerium) schätzt, dass Polizeibeamte jährlich zwischen 400 und 500 unschuldige Menschen umbringen. Fast jeden Tag wird ein Schwarzer von einem Polizisten erschossen.

Am 9. August 2014 etwa war der 18-jährige Michael Brown mit einem Freund auf dem Weg zu seiner Oma in Ferguson, Missouri, einem Vorort von St. Louis. Er hatte vor kurzem die High School absolviert und wollte Musik und Ingenieurwissenschaften studieren. Plötzlich hielt ein Polizeiwagen an, der Beamte befahl den beiden “verfickt noch mal auf dem Bürgersteig zu gehen.” Laut Zeugen gab es einen Wortwechsel, der Polizist wurde handgreiflich, schoss einmal aus nächster Nähe. Dann rannten Brown und sein Freund weg. Brown wurde in den Rücken geschossen. Er hielt an, verwundet, drehte sich mit erhobenen Händen um. Der Polizeibeamte erlegte ihn wie ein Tier.

Hier die Zeugenaussage von Michael Browns Freund.

Eine Welle von Protesten erschütterte Ferguson, während der Fall Brown in den Medien allmählich hoch kochte. Zum Zeitpunkt von Browns Tod aber hatte die Polizei in St.Louis seit Anfang des Jahres schon 16 Menschen erschossen, die meisten waren schwarz. Das britische Magazin The Economist rechnet dagegen vor, dass die Ordnungshüter in Großbritannien im ganzen Jahr 2013 nur drei Mal Feuerwaffen eingesetzt hatten.

Dabei haben die Beamten in den USA kein Unrechtsgefühl, sie sind von ihrer Mission überzeugt. Sunil Dutta, Polizeioffizier in Los Angeles, sagt es klipp und klar in einer Kolumne für die Washington Post: “Wenn Du nicht erschossen, mit dem Taser behandelt, mit Pfefferspray besprüht, mit dem Stock geschlagen oder zu Boden geworfen werden willst, tue einfach, was ich sage. Widerspreche mir nicht, beleidige mich nicht, sage mir nicht, dass ich dich nicht anhalten darf, dass du mich verklagen willst oder dass du mein Gehalt bezahlst. Und nenne mich kein rassistisches Schwein.”

Die Quellen – Geschichten, Meinungen, Zahlen – stapeln sich: Laut der Tageszeitung USA Today erschossen weiße Polizeibeamte zwischen 2006 und 2012 im Durchschnitt jedes Jahr 96 schwarze Männer, das ist etwa einer alle vier Tage. Die Zahlen beruhen auf FBI-Statistiken, die nur felons, verurteilte Verbrecher zählen. Michael Brown wäre hier gar nicht dabei. In den letzten 10 Jahren haben US-Polizisten 5000 Menschen erschossen – das sind mehr als die 4489 US-Opfer des Irakkrieges im selben Zeitraum. Amerikas größter Krieg findet zu hause statt.

Statistiken auswerten ergibt manchmal seltsame Einsichten: es ist in den USA heute 29-Mal wahrscheinlicher von einem Polizeibeamten erschossen zu werden als von einem Terroristen. Das Risiko, einem Dschihadisten zum Opfer zu fallen ist so groß wie das, zuhause von einem umfallenden Schrank erschlagen zu werden. Trotzdem gibt das Land Milliarden aus für Homeland Security, für die Sicherheit des Vaterlandes, während seine Schulen verfallen.

Aber was sagen uns solche Zahlen schon? Es geht hier doch um Werte. Und um die Gemeinschaft. Wir reden von unseren Freunden. Kann man Freundschaft überhaupt messen? Wenn der Russe Böses tut, oder der Chinese, dann steigen wir zu Recht gleich auf die Barrikaden (na ja, bei den Chinesen lieber nicht so eilig, solange sie unsere Autos kaufen). Freundschaft aber impliziert Toleranz. Müssen wir nicht einsichtig sein bei unseren Brüdern? Entgleisungen entschuldigen? Immerhin haben sie diese Leitdemokratie, die unser aller Ideal sein soll. Schon wieder so ein Lieblingswort der Sonntagsredner: Leitdemokratie. Wer leitet hier wen? Haben wir, als Empfänger des wertvollen Gutes, Demokratie dann erlitten? Ich muss mal bei Merkel und Gauck nachlesen, die wissen das bestimmt.

Inzwischen schauen wir uns noch ein wenig um. Dabei bleiben wir gleich in Ferguson.

“Michael Browns Menschlichkeit wurde ihm entwendet,” schreibt der schwarze Journalist Mychal Denzel Smith in The Nation, “seine Zukunft wurde ihm gestohlen, der Stolz seiner Eltern erdrückt.” Es geht hier um mehr als um den Verlust eines oder auch hunderter Leben. Einmal mehr wurde “die Verachtung meines Landes für die schwarze Jugend enthüllt,” urteilt Denzel Smith. Was bleibt denn auch den 70 Prozent schwarzen Bürgern von Ferguson übrig? “Wir protestieren, wir halten Mahnwachen ab, wir randalieren… denn das ist schwarz sein in Amerika: von Tragödie zu Tragödie rennen ohne auch nur einen Augenblick, um durchzuatmen.”

In diesem Amerika ist es selbstverständlich, dass die Medien fast ausnahmslos die Polizeiberichte ungeprüft übernehmen: Brown habe den Beamten angegriffen, hieß es die ersten drei Tage lang. Die Wahrheit trat allmählich zutage, weil Proteste Ferguson im Blickfeld hielten.

“Um immer an Geschichten zu kommen, muss der Polizeireporter bei den Beamten gute Kontakte haben,” schreibt der Kriminologe Ray Surette, “er muss ihr Vertrauen gewinnen.”

Und so geschieht Polizeiberichterstattung in den USA meist schnell und einseitig. Sie entspricht dem vorherrschenden Bild: die Polizei schützt die Bürger vor den kriminellen Schwarzen. Sogar viele Schwarze glauben an dieses Märchen.

Dass sich die Polizei in einem Krieg wähnt kommt nicht von ungefähr. Seit 30 Jahren wird sie dafür bezahlt, gedrillt und ausgerüstet. Die asymmetrische Kriegsführung, das Weltbild, mit dem das Pentagon unsere Völkergemeinschaft auf diesem Planeten betrachtet, ist in den Straßen Amerikas längst angekommen.

Polizei im Krieg

Halt! Konspirationsthese! Polizei im Krieg? Solche Behauptungen sind Unfug, sie widersprechen allem, wofür unsere Völkergemeinschaft steht. Macht sie das weniger wahr? Kann nicht sein, was nicht sein darf? Weitere Indizien sind leicht zu finden.

Fangen wir doch an bei der Ausrüstung, denn die sieht jedes Kind. Zumindest 132’000 Schüler in San Diego werden ohne Zweifel erkennen, was Eskalation bedeutet. Denn das für die öffentlichen Schulen zuständige Kommissariat ist nun stolzer Besitzer eines MRAP. Die Abkürzung steht für Mine Resistant Ambush Protected vehicle – ein Fahrzeug, das gegen Minen und Hinterhalte gepanzert ist (Fotos auf Wikipedia). Erfunden haben das die weißen Rhodesier in den 70er Jahren, als sie gegen schwarze Guerilleros kämpften. Die perverse Symbolik des 700’000 Dollar teueren Geschenkes des US Militärs erkennen in San Diego wohl nur die Schwarzen. Auch die Aufschrift Rescue, das rote Kreuz und der Namenszug des neuen Betreibers, San Diego Unified School District, können nicht verhüllen, dass dies eine Kriegsmaschine ist.

“Ich kann schon verstehen, dass die Leute jetzt Alarm schlagen,” gesteht Captain Joe Florentino vom Schulkommissariat, “sie fragen sich, ob jetzt gepanzerte Fahrzeuge in unsere Schulen rollen?”

Wie schnell das geschehen kann bewiesen die Proteste nach dem Mord an Michael Brown.

“Ferguson sah aus wie ein Kriegsschauplatz,“ berichtet die Stadträtin Patricia Bynes, „es gab gepanzerte Fahrzeuge in den Strassen und die Beamten trugen militärische Uniformen. Sie zielten mit ihren Sturmgewehren auch am helllichten Tag auf die Bürger.“

Als wären sie im Irak und nicht im Bundesstaat Missouri fegte die Polizei wie eine Besatzungsarmee durch die Kleinstadt.

„Die fast ausschließlich weiße Polizei löste einen Krawall aus gegen die schwarze Bevölkerung,“ schrieb der Blogger Chauncey DeVega im Daily Kos. „Sie behandelte die Bürger wie Terroristen.“

Zwei Reporter, die in einem McDonalds saßen, um ihre Berichte zu übermitteln, nahm die Polizei fest.

„Sie schmissen mich brutal gegen die Glasscheibe,“ klagt Ryan Reilly von der Huffington Post, „dann entschuldigte sich der Beamte sarkastisch.“

Seinen Kollegen Wesley Lowrey von der Washington Post schleuderten sie gegen den Cola-Automaten, das klebrige Getränk floss ungehemmt aus. Angeklagt wurde niemand. Ein Sprecher beteuerte anderntags, die Polizei habe die Journalisten bloß beschützen wollen. Etwa vor der ungesunden Nahrung bei McDonalds?

Dafür verfügt Todesschütze Darren Wilson, der Michael Brown mit sechs Schüssen kaltblütig erlegte, über mindestens 500’000 Dollar für seine Verteidigung. Shield of Hope (Schild der Hoffnung) heißt die von Polizeigewerkschaftler Jeff Roorda betriebene Spendenaktion. Und einige seiner Kollegen haben ihre Uniform mit einem Bändel am Handgelenk ergänzt, das trotzig verkündet: „Ich bin Darren Wilson.“ Attitüden, die an die Zeiten des Ku Klux Klan und seines arroganten Rassismus erinnern.

Bis Ferguson hätten wir es für unmöglich gehalten, dass solche (militärische) Taktiken auf amerikanischem Boden gegen amerikanische Bürger eingesetzt werden könnten,“ klagt Marsha Coleman-Adebayo von der Grünen Partei und einst Whistleblower aus dem Umweltministerium.

Inzwischen kann es überall im Lande geschehen. Bis zu 500 der 18 Tonnen schweren MRAP aus dem Irakkrieg sollen laut Medienschätzungen bei diversen Polizeieinheiten in den USA im Einsatz stehen (27’000 ließen die US Militärs insgesamt für ihre Kriege bauen). Dabei ist das MRAP nur das massigste Beispiel für ein gewaltiges Arsenal, das seit Jahren jeden Sheriff oder Kommissar im Lande beglückt.

Programm 1033 heißt die Maßnahme des Department of Defense (Verteidigungs-Ministerium) ganz harmlos. Ein Gesetz von 1997 (National Defense Authorization Act) erlaubte dem Militär fast beliebig überflüssiges Material zu verschenken. Auch wenn man damit keinen Krieg gewinnen konnte, es wäre doch zu schade, Material zu verschrotten mit dem man noch so effizient töten kann. Und so wurde militärisches Gerät im Wert von rund viereinhalb Milliarden Dollar unter die Leute gebracht, darunter auch Panzer, Sturmgewehre und Granatwerfer. Dazu kamen 34 Millionen Dollar, die Homeland Security seit dem 11. September 2001 an lokale Polizeistellen verteilte, um „den Terrorismus“ zu bekämpfen (gegen umfallende Schränke gab es nichts).

Er ist gepanzert. Er ist schwer. Er ist einschüchternd,“ schwärmt Sheriff Craig Apple von Albany County, New York über seinen neuen MRAP, „und er ist gratis.“

Was sie im Alltag damit tun sollen wissen die wenigsten der rund 8000 Polizeistellen, die im ganzen Land Kriegsmaterial erhalten haben. „Ich muss alles tun, um unsere Bürger und unseren Besitz zu schützen,“ versichert etwa William Federspiel, Sheriff von Saginaw County, Michigan (Bürger der Stadt fingen sein Spielzeug auf Video ein). Das Universitätskommissariat der Ohio State University will ihren besonders grimmig aussehenden, 19 Tonnen schweren MaxxPro, der neben Minen auch atomare Bestrahlung und biologische Kampfstoffe abwehrt, an Spieltagen rund um das Stadion einsetzen. Das imposante Gerät soll allzu ekstatische Fans dämpfen. Und um ganz sicher zu gehen, hat die Schulbehörde von Los Angeles zu ihrem großen Panzertruck noch 3 Granatwerfer und 61 automatische Gewehre in Dienst gestellt. Immerhin ist L.A. berüchtigt für seine Gangs.

Aber was geschieht, wenn die militärischen Waffen auch zum Einsatz kommen?

„Nachbarschaften sind keine Kriegsgebiete,“ warnt die American Civil Liberties Union (ACLU), die für Bürgerrechte in Amerika einsteht, „und die Polizei sollte uns nicht wie Kriegsgegner behandeln.“

Doch genau das tut diese neue, hochgerüstete Polizei, nicht nur in Ferguson. Im ganzen Land häufen sich die Klagen über exzessive Polizeigewalt.

Warum und wie wurde aber aus einer normalen Polizei eine Kampfmaschine? Hinter einem simplen Kürzel finden wir die Erklärung: SWAT – das steht für Special Weapons and Tactics (spezielle Waffen und Taktiken). Die kennen wir schon alle aus dem Kino: Schwarz gekleidete Eliteeinheiten, die aus ihren Fahrzeugen springen, den Feind umzingeln, ganze Häuser einnebeln und Türen mit Rammböcken zerschmettern. Die gibt es schon seit den 60er Jahren, für Einsätze gegen besonders gefährliche Gegner wie schwer bewaffnete Drogenhändler oder bei Geiselnahmen.

Dürfen Sondermaßnahmen aber zur Regel werden? „Kleider machen Leute“ heißt es doch so schön. Auch Polizisten sind Leute.

„Man wirft alle Vorsicht in den Wind, wenn man als schicker commando ausstaffiert ist,“ erklärte der pensionierte Polizeioffizier Bill Donelly der Washington Post.

Kriminalistik-Professor Peter Kraska von der Eastern Kentucky University sieht es ähnlich:

“Es gibt eine Paramilitärische Polizei-Subkultur voller Spannung, männlicher Kameraderie, modernen Waffen und der Erwartung von Gewalt.”

Das Verhalten der Polizei in der Leitdemokratie wurde seit drei Jahrzehnten immer mehr zum Kriegseinsatz. Rund 3000 Mal im Jahr mussten die SWAT-Teams in den 80er Jahren ausrücken. Nach einer Studie Kraskas waren es 2012 schon 45’000 Einsätze, das sind über 120 am Tag. Kann es so viele schwer bewaffnete Verbrecher geben? Ein Bericht der ACLU, beruhend auf Daten für 2011 und 2012, kommt zum Schluss, dass nur 7 Prozent der SWAT-Einsätze ihrer wirklichen Bestimmung entsprachen, bei Geiselnahmen oder Schießereien. In 79 Prozent der Fälle rollten die paramilitärischen Teams für simple Hausdurchsuchungen aus. Die Türe eintreten ist zwar auch in den USA nicht erlaubt, außer es besteht „Verdacht auf die Möglichkeit physischer Gewalt.“ Da 50 Prozent aller Haushalte in Amerika Feuerwaffen besitzen, wird der Verdacht alleine zum Freibrief. Bei fast zwei Dritteln aller Hausdurchsuchungen zerschmetterten die SWAT-Krieger die Haustüre. Das geht schneller als die Klingel betätigen. Und macht mehr Spaß.

Sheriffs und Polizeichefs fühlen sich für jede Kleinigkeit berufen, ihre schweren Jungs mit dem tollen Gerät ins Feld zu schicken. Wie im Mai 2014 in Cornelia bei Atlanta, Georgia. Spitzel hatten das Haus eines angeblich bewaffneten Dealers identifiziert. Um 3 Uhr morgens schlug SWAT zu, ein Beamter brach die Türe ein, ein Kollege warf eine Betäubungsgranate – direkt ins Kinderbett. Der 19 Monate alte Bounkham „Bou Bou“ Phonesavanh wurde schwer verbrannt, ein Loch in seiner Brust brachte die Rippen zutage, seine Nase wurde abgerissen (die entsetzlichen Fotos). Das Kind musste im Krankenhaus in ein künstliches Koma versenkt werden. Im Haus fand die Polizei weder Drogen noch Waffen. Später verhaftete sie einen Verwandten der Familie ganz woanders und ganz ohne Widerstand: er hatte Drogen im Wert von 50 Dollar bei sich.

Auch bei der 26-jährigen Tarika Wilson in Lima, Ohio, brachen SWAT-Beamte mit dem Rammbock die Türe ein. Tarika stand auf dem Flur, ihr Baby im Arm. Das Kind überlebte die Kugeln der Polizei, Tarika nicht. Die Beamten waren auf der Suche nach ihrem Freund, Verdacht auf Drogenhandel. Es ist sicher kein Zufall dass Tarika schwarz war und ihr Haus im einzigen schwarzen Viertel des Landkreises stand.

José Guerena, 22, hatte für sein Land im Irak gekämpft, arbeitete nun Spätschicht in Tucson, Arizona. Seine Frau weckte ihn um halb zehn morgens, weil sie „verdächtige Männer vor den Fenstern des Hauses“ sah. José sagte, sie solle sich mit dem Kind im Schrank verstecken, er nahm vorsichtshalber sein Gewehr zur Hand. Dann brach die Hölle los, SWAT-Soldaten feuerten 71 Schüsse ab, über 20 Kugeln töteten den jungen Veteranen. Die Polizei fand keine Drogen im Haus.

Die Liste könnten wir schier endlos fortsetzen, denn SWAT ist heute überall präsent in den USA. In den 80er Jahren hatten nur ein Fünftel aller Kleinstädte solche paramilitärischen Teams, rechnete Peter Kraska. Mitte der 2000er waren schon 80 Prozent für den Krieg ausgestattet (und über 90 Prozent der Großstädte). Und die Aufrüstung nimmt kein Ende. Noch im Juni 2014 schrieb die New York Times, dass „die Obama-Regierung laut Pentagon zehntausende Maschinengewehre an Polizeistellen verteilt hat, 200’000 Schuss Munition, Tausende Tarnanzüge und Nachtsichtgeräte, dazu hunderte Schalldämpfer, Schützenpanzer und Flugzeuge.“

Es ist Zeit für die amerikanische Polizei, sich daran zu erinnern, dass sie unsere Bürger schützen und dienen sollte,“ mahnt die ACLU, „anstatt Krieg gegen sie zu führen.“

Diese Einsicht wird sich zumindest kurzfristig nicht durchsetzen. Denn die Kriegslogik ist nicht nur eine Frage wild gewordener Machos mit teuerem Spielzeug. Die zivile Polizei wird in den USA seit Jahren auch militärisch gedrillt. Die ACLU ließ sich für ihre Studie die Ausbildungsmaterialien zustellen, und sie fand Erschreckendes. „Ihr seid unsere Delta Force“ posaunt etwa Chuck Remsberg vom Killology Research Group, in Anspielung an eine militärische Eliteeinheit. Denn Islamische Terroristen würden sich vorbereiten „Flüsse von Blut und Berge von Leichen in unsere Schulen zu bringen.“ Dieser Spezialist in Killology (die Studie der psychologischen Auswirkungen der Tötens) bildete auch ein SWAT Team in Farmington, Missouri aus, ein Kaff mit weniger als 20’000 Einwohnern südlich von St. Louis, das mit einem Jahreseinkommen von knapp unter 34 000 Dollar pro Haushalt kaum als Anziehungspunkt für gewaltbereite Kriminelle auffallen konnte (die offizielle Armutsgrenze liegt in den USA bei 23 050 Dollar pro Familie).

Auch in Carey, North Carolina (146’000 Einwohner), das sich selbst preist als Technologie-Stadt, wurde bei der Polizei „Kampfgeist“ trainiert. Das sei „des Kriegers innere Kraft, um im Kampf Angst und Widrigkeiten mit Mut bis zum Sieg zu widerstehen.“ Wo soll man noch nach rationalen Erklärungen suchen? Vielleicht kann da nur noch das Amerikanische Sprichwort dienen: „Wer nur einen Hammer besitzt, sieht überall Nägel.“

Sogar gegen einen missliebigen Twitter-Schreiber jagte der Bürgermeister von Peoria, Illinois, sein SWAT Team los: John Daniel hatte sich über Bürgermeister Jim Ardis lustig gemacht, ihn satirisch als Besucher von Sexorgien bezeichnet. Kein Richter wollte deswegen Klage erheben. Resultat des Kampfeinsatzes: jetzt gibt es im Netz 20 satirische Seiten über Bürgermeister Ardis.

Einzelne mögen sich lächerlich machen, das System aber ist weit davon entfernt, lustig zu sein. Denn die Militarisierung hat tatsächlich den gesamten Polizeiapparat des Landes infiziert. Der Einsatz von Gewalt wird selbstverständlich. Es funktioniert wie eine sich verstärkende Rückkoppelung. Wenn Gewalt und Willkür der SWAT-Einheiten alltäglich werden, verseuchen sie ihre Kollegen. Indizien?

Da gibt es etwa den Streifenbullen (das Wort ist hier mehr denn je angebracht), der eine Frau, natürlich eine Schwarze, von der Straße zerrt, sie zu Boden wirft, sich auf sie setzt und auf sie einhaut. Oder die Ordnungshüter der NYPD, die in New York eine 45-jährige Frau halbnackt aus der Wohnung auf den Flur zerren, wo sie den Blicken aller ausgesetzt ist. Hier das Foto. Auch dieses Opfer ist schwarz. Und was ist mit den Verbrechensbekämpfern – Polizei wie Staatsanwaltschaft – die den 16-jährigen Schüler Kalief Browder fälschlicherweise beschuldigten, einen Rucksack gestohlen zu haben? Der Junge saß 33 Monate im berüchtigten Zuchthaus von Rikers Island ein, davon zwischen 700 und 800 Tage in Einzelhaft. Er wurde nie angeklagt.

Die Polizei ist in den USA zu einer brutalen Maschinerie der Unterdrückung geworden. Aber warum hören wir nie davon? Warum sehen wir das Gesamtbild nicht? Auch die blindesten Korrespondenten müssten doch merken, dass es zu viele Einzelfälle gibt, um noch von Entgleisungen reden zu können. Hat es vielleicht damit zu tun, dass unsere Korrespondenten weiß sind und in einer weißen Welt leben? Lassen sie sich deshalb so leicht dazu verführen, genauso zu berichten, wie das ihre amerikanischen Kollegen tun, anekdotenhaft und ohne jeden Versuch, nach Hintergründen und Ursachen zu forschen? Immer wieder bagatellisieren sie die Gewaltausbrüche in den USA als Kuriosum oder als Einzelfall. Auch wenn sie die Tragweite des Problems erkennen, wollen sie das System hinter der Anekdote partout nicht sehen.

Nochmals: Nach wie vielen einzelnen Gewalthandlungen muss ich von Krieg reden? Oder ist es etwa zulässig, zu verharmlosen, wenn die Opfer schwarz sind? Der Krieg der Polizei gegen die eigenen Bürger trifft tatsächlich nur einen Teil der Bevölkerung, der Teil der arm und schwarz oder latino ist. Es ist ein Rassenkrieg und ein Klassenkrieg zugleich. Unseren Brüdern trauen wir das aber nicht zu. Es wäre Verrat an unserer Wertegemeinschaft.

Es ist tatsächlich Verrat an unseren Werten.

Aber Präsident Obama ist doch schwarz! Der Rassismus ist vorbei in den Vereinigten Staaten. Die Bürgerrechtsbewegung hat dem in den 60er und 70er Jahren ein Ende gesetzt. Die US-Amerikanische Gesellschaft hat jegliche Diskriminierung ausgemerzt, sie ist farbenblind. Behaupten wir hier etwa, Martin Luther King sei vergeblich gestorben? Offenbar. Die Beweise sind überwältigend. Dabei sind Geschichten wie die von Kalief Browder besonders gravierend, denn sie zeigen, wie eng Polizei und Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten. Es geht um mehr als um eine außer Kontrolle geratene Polizei. Denn die Justiz im „farbenblinden“ Amerika ist genauso rassistisch wie ihr bewaffneter Arm. Bis hinauf zum Höchsten Gericht. Ein großer Corpus wissenschaftlicher Untersuchung untermauert diese Behauptung – die von der Politik schlicht ignoriert wird. Darauf kommen wir zurück.

Intermezzo

Können wir nun die Existenz eines Krieges der Polizei gegen ihre schwarzen Mitbürger in den USA als bewiesen betrachten? Vielleicht sollten wir uns überlegen, was eine Beweisführung in den Sozialwissenschaften, wie im Journalismus, überhaupt ist. In den exakten Wissenschaften muss sich ein Experiment, das unter denselben Bedingungen und mit denselben Elementen geführt wird, jederzeit und überall wiederholen können. Erst dann können wir von Gesetz reden. Etwa, dass Wasser auf Meereshöhe bei 100°C kocht. Bei den Sozialwissenschaften müssen wir uns damit begnügen, eine überzeugende Reihe von Tatsachen mit überzeugender Logik zu erklären. Wir bauen Ketten von Indizienbeweisen auf, fügen sie logisch zusammen. Daraus leiten wir eine Gesetzmäßigkeit ab.

Ich behaupte also, dass Polizei und Justiz in den USA gezielt Schwarze (und zunehmend Latinos) unterdrücken. Den Mechanismus haben wir, zumindest für die Polizei, überzeugend darstellen können. Aber fehlt uns nicht etwas?

Was fehlt ist die explizite Absicht. Der Befehl, der Dienstplan oder die ausformulierte Strategie. Oder etwa eine Konspiration? Ein geheimes Treffen etwa, bei dem Präsident Ronald Reagan mit einigen engen Beratern in den 80er Jahren die erneute Unterdrückung der Schwarzen beschlossen hätte. Dann hätten wir die erklärte Absicht, die gerade Linie zwischen Ausgangspunkt und Ziel. Das würde es uns vielleicht leichter machen, den Tatbestand zu erklären. Das menschliche Gehirn mag einfache Lösungen, denn es ist von Natur aus denkfaul (siehe etwa Daniel Kahnemann: „Thinking, Fast and Slow“).

Aber so funktioniert das nicht. Selten sind Verschwörungen im Spiel. Dann wäre es auch allzu leicht, einen solchen Verdacht als „Konspirationsthese“ abzutun. Und mit diesem Etikett ist jede Analyse, jeder Erklärungsversuch, dem Untergang geweiht. Wer will als Journalist schon mit dem gefährlichen Virus infiziert werden, das ihn a priori dazu verdammt, ignoriert zu werden? Deshalb betonen wir hier, dass es keine Verschwörung gab, keinen Plan. Trotzdem ist das Resultat so, als hätte es diesen Plan tatsächlich gegeben.

Gesellschaftspolitische Entwicklungen entstehen nicht durch Beschlüsse von mehr oder weniger geheimen Bünden, die von den gerade amtierenden Machthabern dann umgesetzt werden. Sie entstehen durch das Zusammenkommen zahlreicher gesellschaftlicher und politischer Faktoren, durch die Spannungen zwischen diversen rivalisierenden Gruppen, die sich für ihre Interessen einsetzen. Die passen sich in diesem Kampf den realen Umständen ihrer Zeit an, ohne aber ihre Ziele aus den Augen zu verlieren. Das nennt man Politik.

Nach der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre wurde es in den USA unmöglich, offen rassistisch zu sein. Den Rassismus zu überwinden war das proklamierte Ziel der Gesellschaft. Politik aber sucht sich wie Wasser seinen Weg, umfliesst und untergräbt jedes Hindernis, bis es an seinem Ziel ankommt. Wo dieses Ziel genau liegt braucht dabei gar nicht unbedingt klar zu sein. Ronald Reagan wäre ohne Zweifel entsetzt, würde er mit der Tatsache konfrontiert, seine Politik habe die Rückkehr der Rassendiskriminierung ermöglicht. Das war nicht erklärte Absicht. Es war aber die Folge einer ganzen Reihe von Entwicklungen, die durch engstirnige ideologische und wirtschaftliche Interessen verursacht wurden. Denen nachzuspüren kann uns nicht erspart bleiben, wollen wir unsere Analyse der heute so gewalttätigen Polizei auch fest begründen.

Wir müssen uns fragen, in welchem Rahmen die Politik agiert hat in den letzten 30 Jahren, um zu einem so entsetzlichen Ziel zu gelangen wie dem gegenwärtigen rassistischen Unrechtsstaat. Den Rahmen festzulegen war ohne Zweifel der erste Erfolg des Systems. Die USA wurden „farbenblind“ und frei von Rassismus jeglicher Art. Dieser Rahmen hat uns in den letzten drei Jahrzehnten daran gehindert, die neue Rassenunterdrückung überhaupt zu sehen. Jegliche Debatte über Justiz und Polizei, über Armut und Ghettos oder über Gewalt und Gegengewalt fand innerhalb eines Rahmens statt, in dem Rassismus ausgeschlossen war. Den gab es ja nicht mehr, also konnte er nicht mehr Teil des Bildes sein.

Schauen wir also zunächst, wie das System entstand. Denn sein Ursprung liegt viel weiter zurück als Ronald Reagan.

„Wir haben ein Problem in diesem Land, wenn wir über Macht nachdenken,“ glaubt Chauncy DeVega, Gründer des Blogs We Are Respectable Negroes (Wir sind ehrenhafte Neger), „wir müssen betonen, dass Rassismus und Polizeigewalt zusammengehören.“

Dafür sieht er einen klaren historischen Ursprung:

„Moderne Polizei geht zurück auf die Sklavenpatrouillen.“

Ähnlich sagt das Professor Victor E. Kappeler von der Eastern Kentucky University:

„Sklaverei und die Kontrolle über Minderheiten… waren zwei der stärksten historischen Merkmale der Gesellschaft, als sie die erste Polizei schuf.“

Ist es nicht zu weit hergeholt, Polizeigewalt und Unrecht in der Justiz mit der Sklaverei in Verbindung zu bringen? Mag sein. Lassen wir dies als These einiger Autoren, Aktivisten und Sozialwissenschaftler erst einmal im Raum stehen. Wir sammeln weiter Indizien und versuchen, diesen Krieg näher zu definieren. Denn nur eine klare Definition des Sachverhaltes wird es uns ermöglichen, den dichten Nebel der Sympathie und der von der Nachkriegszeit geerbten Dankbarkeit gegenüber den USA zu durchdringen. Wir müssen diesen Nebel aber durchdringen, denn verschwommene Ansichten über Werte und Gemeinschaft bestimmen unser handeln. Wir berufen uns auf Bündnisse, die längst überholt sind. Auch bei den engsten Freunden darf, ja soll man fragen: gehören wir wirklich noch zusammen? Und wenn ja, wie?

Folgende Kapitel, die ich in den nächsten Blogbeiträgen thematisiere:

Kapitel 2: Die Kriegserklärung: Drogenkrieg in einer farbenblinden Gesellschaft.

Der Krieg, der den Rassismus unter anderem Namen wieder einführte in den USA wurde ganz offiziell erklärt. Es war ein getarnter Weltkrieg, bei dem wir alle mitgemacht haben.

Kapitel 3: Die Ernte

Es ist fast wie die jährliche Lese eines einträglichen Produktes. Aber sie ist nicht bedingt durch Jahreszeiten. Junge schwarze und braune Männer stehen an den Straßenecken Amerikas bereit, aufgegriffen zu werden. Wie ein gewaltiger Mähdrescher fegt sie der Polizeiapparat in die Haftanstalten. Die wuchsen in den letzten 30 Jahren zu einer monströsen Industrie heran, ob nun öffentlich oder privat. Die USA inhaftieren heute weit mehr Menschen, als jeder andere Staat der Welt. Unsere Leitdemokratie sperrt mehr Menschen hinter Gitter als einst die Sowjetunion.

Kapitel 4: Der Ausgang

Wer verurteilt wird, erwartet irgendwann Freiheit, wenn er seine Strafe gebüßt hat. Recht und Justiz sollen doch eine lebensfähige Gemeinschaft in Freiheit garantieren. Bei den so bewunderten Brüdern unserer Wertegemeinschaft trifft das nicht zu. Rache und Unterdrückung sind explizite Ziele der staatlichen Organe der Ordnung. Wer als Schwarzer in die Maschinerie der Justiz gerät wird nie wieder zu einem freien Bürger werden – auch wenn sein ursprüngliches Vergehen nicht mehr war, als in der Jugend einen Joint zu rauchen und später mal aus Hunger eine Pizza zu klauen. Millionen Schwarze (und Latinos) werden aus der Haft nicht in die Freiheit entlassen, sondern nur in den Ausgang. Wieder freier Bürger zu werden, schaffen die wenigsten.

Siehe auch:

Ferguson: Polizei erschießt alle Protestierenden aus Notwehr